ZURÜCKTRETEN ... vom Leben
„Die Zeit ist aus den Fugen; Schmach und Gram, Daß ich zur Welt, sie
einzurichten, kam!“ (W. Shakespeare, Hamlet)
Schwur des Autors Anh Tuấn Lê:
Hiermit schwöre ich, solange ich als Buchautor arbeite, nur über die
Elenden und für die Elenden zu schreiben, sie zu schützen und denen
beizustehen, solange ich noch lebe.
Warum sagt man „zurücktreten“?
[MEMOIREN]
Ich fühle mich überglücklich, während ich diese Zeilen meiner Tochter
zum Diktat vorlese. Das ist eine wundersame Geschichte, die ich, solange ich
noch atmen kann, unbedingt schreiben möchte. Diese wunderschöne und für mein
Leben sehr bedeutsame Geschichte ist während einer schlaflosen Nacht entstanden,
als ich kein Auge zumachen konnte.
Die Protagonisten in dieser Geschichte sind alle meine Liebsten. Mein
Atem, mein Fleisch und Blut.
Anstatt „zurücktreten“ hätte ich auch ein anderes Wort wählen können,
aber das Wort „zurücktreten“ passt wunderbar in diese Situation und dieses
Konzept, sodass kein anderes Wort dafür geeigneter wäre. Der Hintergrund dafür
ist, seit dem ich dank Fügung das Licht der Welt vor genau 52 Jahren erblicken
durfte, dass ich in keiner Sekunde meines Lebens, bedingt durch was auch immer,
jemals diese Dankbarkeit vergessen habe. Immer hege ich in meinem Gehirn den
Gedanken; diese lebenswichtige Frage existiert wundersamer Weise ständig in
meinem Gehirn.
FLUCH ODER SEGEN
In der Tat ist diese Frage überflüssig und zwar bin ich auch wie viele
andere Menschen mit allen Höhen und Tiefen des Lebens konfrontiert. Leider ist
es bei mir oder zum Glück immer einseitig. Also vor drei Jahren bin ich
unverhofft von einem Blitzschlag getroffen. Seit August 2011 leide ich unter Glioblastoma
multiforme.
GBM WHO IV ist eine unheilbare, tödliche Krankheit. Und da ich so viele
Dankbarkeiten schulde, tue ich und tat ich seit August 2011 alles, um zu
überleben, damit ich gegenüber meinen Allerliebsten nicht gröblich undankbar
bin.
Viele Leute gleicher Situation hätten die Möglichkeit gar nicht, eine
Auswahl zu treffen, ob zurücktreten oder nicht. Und da ich das durfte, erzähle
ich hier:
Ich müsste auch mal „angeben“, dass Gott mir ein exzellentes Gedächtnis
gegeben hat. Noch mehr hat er mir einen ununterbrochenen Lebenswillen gegeben.
Jetzt kommen wir zu dem Hauptteil, warum ich gerade diese Geschichte schreibe
und warum diese und genau diese unbedingt noch zu meinen Lebzeiten geschrieben
werden muss. Am Anfang habe ich meine Dankbarkeit gegenüber meiner Eltern
erwähnt. Viele Leser, wenn sie bis hier hin lesen, werden schmunzeln: Was ist
das für eine komische Geschichte?
Überlegen schmunzelnd, genauso große Dankbarkeit empfinde ich gegenüber
meiner Ehefrau und meinen allerliebsten Kindern. Ich bin ein Kind des Friedens,
aber wir benutzen ein Wort des Krieges.
Die Personen meiner allerliebsten Familie bilden das Bollwerk, womit ich
gegen die tödliche Krankheit, gegen die unerträglichen Schmerzen, gegen alle
Tsunamis des Lebens kämpfe.
Jetzt kommen wir zu der Plauderei mit „zurücktreten“.
Man kann von einem Amt zurücktreten. Das bedeutet zugleich, man
begleitet ein schönes Amt (Bundespräsident, Kanzleramt, Papst, Kardinal,
Bischof, Familienoberhaupt).
Wortwörtlich gesagt, habe ich mich mit dem Begriff „zurücktreten“ („nicht
übertrieben“) etliche Nächte mit der Entstehung und Bedeutung des Wortes auseinandergesetzt.
Dabei ließ ich die unvergesslichen Bilder meines Lebens, die im Zusammenhang mit
diesem Wort stehen, Revue passieren.
Es gibt auch frische Erinnerungen, die sind aber wunderschön und sehr
erwähnenswert.
Ich sehe meine Frau: zierlich, kleine Gestalt, aber sie ist groß,
großartig. Nachts durch die Zimmertür laufend und mir Medikamente bringend,
meinen Kopf anhebend und das Schmerzmedikament gebend.
Ich sehe meine Frau ganz zierlich den Computerstuhl in meiner Wohnung
schieben, um mich von A nach B zu bringen. Dabei fallen ihre Haare vor ihr
Gesicht.
Besonders in diesen Augenblicken bemerke ich ihre Schönheit, wo ich im
normalen Alltag gar nicht aufgepasst habe.
Man stellt sich eines Morgens vor, die Hektik an einer Bushaltestelle,
so ist es bei uns auch in der Wohnung. Wenn ich Glück habe, dann sehe ich noch meinen
Sohn, 13 Jahre, bevor er in seine Klasse auf dem Gymnasium geht.
Wenn ich an meine beiden Kinder denke, fühle ich das warme Gewicht auf
meinen Schultern.
Da, wo meine Kinder noch ganz klein waren, und wenn wir vom Besuch nach
Hause gekommen sind, haben wir immer in der fünften Etage gewohnt. Meine
Kinder, Tochter und Sohn, ritten gern auf meinen Schultern.
Daher gewähre ich ihnen auch alle Wünsche, weil ich sie über alles
liebe.
Viele halten diese Gedanken für verrückt. Nur ich nicht.
Ich weiß noch, nach der OP im August 2011 war ich sehr schwach auf den
Beinen, meine Tochter, Studentin im zweiten Semester, ein bisschen über 19 Jahre
alt, hat automatisch Urlaub genommen und mich in die Strahlenklinik begleitet
mit der Bahn, ohne dass ich sie darum gebeten habe.
Jetzt wissen wir alle, warum ich unsägliche Dankbarkeit gegenüber meinen
Eltern, gegenüber meiner Frau und gegenüber meinen Kindern hege.
Es steht außer Frage, dass es für mich besonders schwer ist, den Titel
meines Werkes auszuwählen.
Zurücktreten bedeutet nicht den Tod, obwohl beide Wörter manches
gemeinsam haben. Also wenn man tot ist, kommt man nicht mehr ins Leben zurück. Und
wenn jemand zurückgetreten ist, kann er das nicht mehr rückgängig machen.
Summa summarum:
Ich will noch einige Jahre leben, das heißt, ich will nicht
zurücktreten. Dafür gibt es keinen Grund.
27/03/2014
Copyright Anh Tuấn Lê